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Helden, Opfer oder Täter? – Soldaten des Zweiten Weltkrieges im Lemgoer Ehrenbuch

Zum Hintergrund:

Das Ehrenbuch ging ursprünglich auf eine Idee des Lemgoer Bürgermeisters Wilhelm Gräfer 1941 zurück, der damit die Namen der Gefallenen, „die einst in großer Zeit ihr Leben für Führer und Vaterland gaben“ wachhalten wollte. Grundlage für die Erstellung sollte der Fragebogen „für kriegsgefallene Parteigenossen und deren Hinterbliebene“ sein, der von der NSDAP verwendet wurde. Die Angehörigen der Gefallenen erhielten diesen Fragebogen ab 1941 bis fast zum Kriegsende zum Ausfüllen sowie zur Beifügung von Sterbefallanzeigen und Fotoaufnahmen des Verstorbenen, von denen Reproduktionen für das Ehrenbuch angefertigt wurden. Die Reproduktionen wurden an die Ortsgruppe der NSDAP in Lemgo weitergereicht. Ein Ehrenbuch ist bis Kriegsende nicht fertiggestellt worden und sollte vermutlich auch erst nach einem vermeintlichen Sieg angefertigt werden. Erst 1954 kam im Zusammenhang mit der Errichtung eines örtlichen Ehrenmales für die Opfer des Zweiten Weltkrieges, auch die Idee eines Ehrenbuches für Lemgo auf. Darin sollten Männer, Frauen und Kinder Berücksichtigung finden, die durch Kriegseinwirkung an der Front, in der Heimat, auf der Flucht, in der Gefangenschaft oder als Verschleppte ihr Leben verloren haben oder als vermisst galten. Diese sehr verschiedenen Opfergruppen lassen sich auch tatsächlich im Ehrenbuch nachweisen. Die Bürgerinnen und Bürger wurden anschließend aufgefordert, ihre Angaben zu den Gefallenen aus ihren Familien zu festen Terminen auf dem Lemgoer Rathaus zu machen, was sehr rege geschah. Insgesamt kamen so fast eintausend Namen von Gefallenen zusammen. Ein aus Luxemburg stammender Buchbinder, der nach dem Kriege als Angehöriger der Volksdeutschen Bewegung in Luxemburg zu einer Haftstrafe verurteilt wurde und nach der Freilassung nach Lemgo übersiedelte, übernahm die künstlerische Gestaltung des Ehrenbuches in Format 45 x 58 Zentimeter auf ehrenamtlicher Basis.

Auf jeder Seite werden grundsätzlich 4 Gefallene genannt mit Nachname, Vorname, Geburtsort, Geburtsdatum, Beruf, militärische Einheiten, Dienstgrad, Auszeichnungen, wo und wann gefallen, wo begraben, Namen der Ehefrau, der Kinder und der Eltern. Zusätzlich sollte jeweils ein Foto des Verstorbenen in das Ehrenbuch Eingang finden.

Die Namen der Gefallenen sind chronologisch nach dem Todesdatum (soweit bekannt) angeordnet, so dass man im Verlauf des Jahres die passende Seite mit den Getöteten zum jeweiligen Tag aufschlagen kann.

1959 konnte das Buch fertiggestellt und öffentlich in einer Vitrine ausgestellt werden. Die Ausstellungsorte wechselten von einer Gaststätte (bis 1965), über die Pfarrkirche St. Nicolai (bei einem Altar) bis zur Eingangshalle des Lemgoer Rathauses, wo es in unmittelbarer Nähe des Porträts von Wilhelm Gräfer ausgestellt war.

Anfang 1992 ließ der Lemgoer Stadtdirektor Ulrich Faßhauer aus dem sog. Lemgoer Ehrenbuch in der Rathaushalle die Gedenkblätter für 23 ehem. Angehörige der Waffen-SS entfernen, nachdem Gymnasiasten aus Detmold im Vorfeld Kritik an dieser Gedenkpraxis geäußert hatten.

Nachdem die Angehörige eines Gefallenen das Fehlen der Gedenkblätter 1992 bemerkt hatte, kam es zu einer politischen und juristischen Kontroverse, ob ein solches Eingreifen und Vorgehen des Stadtdirektors rechtmäßig sei oder dadurch eher die „Würde der Toten“ verletzt würde. Schließlich einigte man sich darauf, die 23 fraglichen Angehörigen der Waffen-SS mit Hilfe des Berlin Document Center (heute Bundesarchiv) auf ihre Parteimitgliedschaft in der NSDAP und sonstiger NS-Organisationen überprüfen zu lassen und dann über das weitere Vorgehen zu entscheiden.

Tatsächlich wurden aber nur bei zehn Soldaten die Informationen abgefragt, da die restlichen Männer trotz Zugehörigkeit zur Waffen-SS als zu jung galten (Geburtsjahr jünger als 1920).

Nach dem Eingang der Archivdokumente, wurde lediglich ein Angehöriger der Waffen-SS aus dem Gedenkbuch entfernt (Hermann Dethof). Die anderen 22 Gedenkblätter wurden Ende 1992 wieder dem Ehrenbuch hinzugefügt.

2007/08 wurde das Ehrenbuch durch die Stadtverwaltung aus dem Rathaus entfernt, da dort Umbaumaßnahmen vorgesehen waren. Neuer Standort für das nunmehrige Faksimile des Ehrenbuches wurde die Vorhalle der Friedhofskapelle auf dem etwas außerhalb des Stadtkerns gelegenen städtischen Friedhof. Der neue Standort wurde als passender angesehen, wenn auch nicht mehr so zentral und prominent.

Die Originalseiten des Ehrenbuches gelangten im Zuge dessen in das Stadtarchiv und wurden 2022/23 hausintern digitalisiert.

Im Stadtarchiv befinden sich auch die Meldebögen der Angehörigen, die teilweise aus der Zeit vor und nach 1945 stammen und mehr Angaben enthalten als auf den Gedenkblättern aufgenommen wurden, z. B. Mitgliedschaften in den NS-Organisationen.

2005 hatte sich die damalige Lemgoer Stadtarchivarin Dr. Gisela Wilbertz bereits mit der Entstehungsgeschichte des Ehrenbuches in einem Vortrag erstmals kritisch und quellenbasiert auseinandergesetzt und die Zusammenhänge der Ehrenbuchprojekte vor und nach dem Krieg herausgearbeitet.

Zur Kontextualisierung des Ehrenbuches wurde in der Friedhofskapelle zuletzt ein knapper, einordnender Text eines Historikers angebracht, der die städtische Haltung zum Ehrenbuch verdeutlichen soll.

Die Gedenkblätter im Stadtarchiv sind nunmehr in erster Linie als historische Quelle zu verstehen, die befragt und hinterfragt werden können. Ihre Digitalisierung und Online-Stellung soll die Auseinandersetzung mit dieser Quelle, ihrer Entstehung und der Rolle der deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg fördern. Sie kann auch Ausgangspunkt für die private Familienforschung zu gefallenen Angehörigen sein. Siehe dazu auch die Informationen des Bundesarchivs.

Abschließend stellt das Lemgoer Ehrenbuch natürlich auch die Frage nach einem zeitgemäßen Gedenken an die gefallenen Soldaten des Zweiten Weltkrieges und wie der Opferbegriff im Krieg zu bewerten ist.

Die Ereignisse in der Ukraine ab April 2022 zeigen die andauernde Aktualität dieses Themas.

Zu den Digitalisaten des Lemgoer Ehrenbuches (Signaturen: B 5570 - B 5575) im Portal "Archive in NRW"...