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Vorwort

Zum Welttag des Buches am 23. April 2023 wird hier der Dia-Vortrag des ehemaligen Leiters des Lemgoer Stadtarchivs und Gymnasiallehrers Dr. Hans Hoppe (bis 1981) über die Buchhandschriften im Stadtarchiv Lemgo wiedergegeben. In seinem Vortrag bezieht sich Hoppe u. a. auf Handschriften(fragmente) bzw. Makulatur, Inkunabeln und Frühdrucke im Bestand der Gymnasialbibliothek im Stadtarchiv. In diesem Bestand haben sich u. a. auch die Inkunabeln/Wiegendrucke des im Zuge der Reformation aufgelösten Franziskanerklosters in Lemgo erhalten.

Den Schwerpunkt seiner Ausführungen legt Hoppe auf kunsthistorisch-stilistische Betrachtungen, er geht aber auch auf buchgeschichtliche Entwicklungen ein. Er stellt Vergleiche zwischen Architektur und Buchmalerei an und versucht gegenseitige Bezüge herzustellen.

Die Ausführungen Hoppes sind sicherlich nicht immer mehr zeitgemäß, teilweise auch überholt, vermitteln aber immer noch ein anschauliches Bild des Themas für Laien und Interessierte.

Der ursprüngliche Vortragsstil ist beibehalten. Die Signaturen der Diaaufnahmen im Stadtarchiv sind jeweils angegeben. Das Original des Vortragsmanuskriptes befindet sich im Stadtarchiv Lemgo unter der Signatur NL 20/63.

 

Vortrag (stellenweise gekürzt)

Wenn wir das Innere einer gotischen Kirche betreten, so erfaßt uns unter dem Eindruck der hohen und kühn geschwungenen Gewölbe eine weihevolle Stimmung. Wohl niemand kann sich der sakralen Atmosphäre eines solchen Raumes entziehen. Und doch findet das Raumerlebnis erst seine Krönung, wenn die liturgische Feier erklingt. Die mittelalterliche Gotik ist unlösbar verbunden mit der Gregorianik - mit dem gregorianischen Messegesang. Was Sie hier sehen, ist eine Seite aus einem alten Messebuch: ein Pergamentblatt mit Notenzeile, - einem Lobgesang, "Ad laudes Hymnus". Etwa Anfang 14. Jhd. Die Seite ist als Einzelblatt erhalten, da sie als Makulatur bei späteren Einbänden verwandt wurde.

Bild: N 3/1396

Ebenfalls ein makuliertes Pergamentblatt aus spätgotischer Zeit: Es zeigt ein Antiphon auf die Jungfrau Maria, genauer auf die Geburt Mariä. "Nativitas tua dei genitrix..." so beginnt der Text nach der Initiale. Unter Antiphon versteht man eine Form des gregorianischen Gesanges. Die Noten sind bekannt unter dem Begriff "Quadratnoten". Die Nota Quadrata stammt aus Frankreich, wo sie schon in frühgotischer Zeit gebraucht wird. Im Hinblick auf das hohe Alter dieser Handschrift, und wenn man die schon vor Jahrhunderten erfolgte Zweckentfremdung als Einbandmaterial berücksichtigt, so muss man sich wundern, wie schön hier Farbe, Schrift und Pergament noch erhalten sind. Das ist naturgemäß nicht bei allen aufgefundenen Blättern der Fall...

Bild: N 3/1395

Dieses dunkle Pergamentblatt bietet sich sozusagen im Normalzustand dar: nur schwer zu lesen und auch beschädigt durch den langen Gebrauch als Bucheinband. Eine Ausschnittvergrößerung läßt etwas mehr sehen:

Bild: N 3/1384

Die Notenstelle weist den älteren in Deutschland gebräuchlichen Notentypus auf: es sind sogen. Neumen, in diesem Falle Neumen mit Linien. Diese Neumen sind ursprünglich als Handzeichen zu verstehen, Zeichen des Chorleiters, mit denen er den Verlauf der Melodie andeutete: also eine Art Stenographie des Dirigierens.

Die Frage: Weshalb sind die alten Messebücher auseinandergenommen und auf diese Weise zerstreut worden, ist einfach damit zu beantworten, dass die Liturgie sich im Laufe der Zeit verändert hatte und dadurch die handschriftlichen Unterlagen keine Gültigkeit mehr besaßen. So wurden die Bücher also ausrangiert; und das geschah keineswegs erst im Zuge der Reformation, sondern schon lange vorher.

Wir müssen uns klarmachen, daß sich in die Messegebräuche des Mittelalters im Laufe der Jahrhundert allerlei Zusätze und religionsfremde Elemente eingebürgert oder eingeschlichen hatten. Weit verbreitet war beispielsweise der Aberglaube, daß durch bestimmte Messeformen oder Gebete unmittelbar eine Heilung von Krankheiten oder sonstwie Schutz gegen Schäden materieller Art bewirkt werden konnten.

Bild: N 3/1385

Diese Bilder zeigen Ihnen Ausschnitte aus Messen, die mit solchem Aberglauben verbunden waren. Es ist dies ein Beispiel mit linienlosen Neumen. Ein sehr altes Blatt; ich schätze 13.Jahrhundert.

Sie werden den Unterschied im Schriftcharakter selbst feststellen. Die für das Gotische bezeichnende Brechung der Buchstaben - daher "Fraktur" - ist noch nicht so konsequent durchgeführt wie in den jüngeren Beispielen. Dazu kommt die sehr alte Neumenform.

Bild: N 3/1375

Wie ich schon andeutete, wurden die alten liturgischen Bücher schon in vorreformatorischer Zeit ausrangiert, und zwar etwa im Laufe der zweiten Hälfte des 15.Jahrhunderts. Kein geringerer als Nikolaus von Kues, der berühmte "Cusanus", von dem wir übrigens im Archiv ein original besiegeltes Pergament besitzen,- dieser "Cusanus" also war es, der schon damals erstmalig einen Kanon von Massen aufsetzte, die er abzuschaffen wünschte!

Darunter befand sich auch die Messe in Octava Sancti Stephani, die gegen Nachstellungen der Feinde schützen sollte. Im Bilde sehen Sie eine Seite mit Orationen für solche Votivmessen: in der linken Spalte neben dem "H" in Rot (6. Zeile) ist der Name des heiligen Stephanus zu erkennen.

Die betreffende Stelle hier noch einmal in Vergrößerung.

Auch die seit 1463 in Lemgo ansässigen Observanten oder Franziskaner - Minoritenbrüder haben sich um Läuterung der Messebräuche bemüht. Sie führten noch zu Beginn der Reformation ein neues gedrucktes Messebuch ein, das tadellos erhalten ist und aus dem ich Ihnen nachher noch einige Bilder zeigen kann.

Doch möchte ich vorerst einmal wieder einen großen Schritt um etwa 300 Jahre zurück tun bis an die Schwelle zwischen romanischer und gotischer Zeit...

Bild: N 3/1376

Der Schreiber dieses Blattes wurde wahrscheinlich noch vor der Erbauung der Nikolaikirche geboren. Es ist fraglos das älteste hier in Lemgo vorhandene Schriftstück; bei aller Vorsicht darf man es getrost in das 12. Jahrhundert verlegen. Die Schriftform ist romanisch, es ist eine Spätform der sogenannten "Karolingischen Minuskel". Dieser Schriftstil hat seine Gültigkeit gehabt von den Zeiten Karls des Großen bis in den Übergang zur Gotik im 12. - 13.Jahrhundert.

Inhaltlich gehört das Blatt zu einem wissenschaftlichen - genauer gesagt - anatomischen Werk: Wir unterscheiden in der 3. und 4. Zeile von oben in Rotschrift die Worte: "De ossibus dorsi" d.h. 'Von den Rückenwirbeln'

Bild: N 3/1374

Diese Vergrößerung zeigt Ihnen deutlich den Charakter der Schrift mit ihren romanischen Rundungen. Genau wie im Kirchenbau so sind auch im Schriftwesen gotischer und romanischer Stil scharf getrennt. Der Übergang von der karolingischen Minuskel zur gotischen Fraktur ist historisch ziemlich abrupt vor sich gegangen:- ohne Zwischenstufe vollzog sich der Stilwandel.

Bild: N 3/1380

Hier ein frühgotisches Blatt. Man beachte den auffallenden Unterschied im Gesamteindruck.

Unwillkürlich drängt sich uns dabei die Vorstellung von gotischen Fenstern mit ihrem kunstvollen Maßwerk auf,- besonders, wenn wir die linearen Blattmuster in dem blauen "H" links näher betrachten.

Der Text ist auch inhaltlich recht interessant. Wir haben es offenbar mit einem scholastischen Werk zu tun, das sich mit der großen Weltordnung befasst.

Bild: N 3/1373

Für den mittelalterlichen Menschen besaßen Bücher magische Kräfte. Und die Ehrfurcht vor dem geschriebenen Wort findet ihren Ausdruck im Buchschmuck. Wie Reliquienschreine werden die kostbaren Evangeliare verziert mit Elfenbein und Edelsteinen. Die großen Buchstaben, - die Initialen - werden kunstvoll ausgemalt.

Hier zeige ich Ihnen die Fotographie eines Elfenbeinreliefs, das von einem Bucheinband aus Reichenau stammt. Wir sehen im Bilde, wie im 12.Jht. ein Buch zustande kam und bearbeitet wurde: Der heilige Gregorius beherrscht das Bild. Auf einem mit romanischem Blattwerk verzierten Stuhl sitzt er und der Heilige Geist in Gestalt der Taube gibt im die Gedanken zu seinem Werk ein. Unten erkennen wir die Schreiber und Buchmaler: der in der Mitte - mit dem Tintenfaß in Form eines Horns - schreibt das Buch; der links Sitzende verziert den Ledereinband, und der Mönch zur Rechten malt die Buchstaben aus.

Bild: N 3/1378

Und nun wieder ein Beispiel aus Lemgo. Das Ergebnis der im Relief dargestellten Arbeit sehen wir an diesem Beispiel aus etwa gleicher Zeit. Es ist das früheste, - gleichzeitig die einzige ausgemalte Initiale, die in Lemgo aus romanischer Zeit erhalten ist.

Bild: N 3/1400

Sie erkennen die ornamental betonten Schlangen körper,- hier in Hundeköpfen endend.

Während sich in der Initiale die Windungen ganz der Buchstabenform des "L" anpassten, untermalen sie in der Bauplastik das tragende Element des Kapitels. In Stein gehauen kehren hier auch die Punktmuster der Initiale wieder, desgleichen die stilisierten Blätter.

Das gezeigte Kapitell gehört zum Kreuzgang der Benediktiner-Klosterkirche zu Königslutter, Bauzeit 1160 - 1170.

Bild: N 3/1401

Anschließend nun der spätgotische Bibelkodex aus Lemgo, der im Hexenbürgermeisterhaus aus liegt [inzwischen im Stadtarchiv unter der Signatur Y 19, Oeben].

Es ist die erste Seite der "Sprüche Salomonis" mit einem kommentierenden Prolog. Wir erkennen in der Überschrift das Wort "Parabole", geschri ben PA- BO - IE. (Der erste Teil PA ist als "Para" zu lesen)

Das malerische Element tritt so stark in den Vordergrund, daß man erst nach eingehender Prüfung zwei große Initialen im Zusammenhang des Textes erkennt, nämlich links ein "I" - zum lateinischen Worte "Iungat" - und in der rechten Spalte etwas besser zu unterschei den ein "P" - zum Worte "Parabole" gehörig.

Das Ganze ein in Lemgo einmaliges Beispiel für Buchmalerei mit Miniaturen, d.h. also mit menschlichen Figuren im Kleinbild.

Bild: N 3/1407

Hier sehen Sie im Detail König Salomon: ein strenger, königlicher Jüngling mit dem Buch als Symbol seiner Weisheit. So steht er da unter dem Dreipass-Bogen eines schmalen Thronbaus, vor echt goldenem Hintergrund. Das Rankwerk im Charakter ganz ähnlich dem des vorhin gezeigten romanischen "L". Schlangenartige Knoten und Schäfte, stilisiertes Blattwerk. Links am Dach der Initiale wird ein kleiner Hundekopf in Braun sichtbar.

Bild: N 3/1409

Zum Vergleich eine Abbildung des Fürstenportals am Bamberger Dom, erbaut um 1230.

Die Figuren sind in das Portalgewände hineingearbeitet, jeweils zwei übereinander.

Genau so ist es auch in der Buchminiatur gemacht, wie uns das folgend Bild nochmal deutlich zeigt...

Bild: N 3/1410

Die beiden Figuren sind in Anbetracht des außerordentlich schmalen Raumes sehr fein und exakt ausgeführt. Besonders ausdrucksvoll das Gesicht der unteren: ich bin im Zweifel, ob sie Christus darstellen soll.

Möglich wäre es trotz der alttestamentarischen Stelle; denn ein beziehungsvolles Nebeneinander alt- und neuttestamentarischer Gestalten kommt in der Buchmalerei auch sonst vor, wie z.B. der Evangelist Matthäus neben dem Traum Josephs in einem sächsischen Kodex von 1230.

Wie dem auch sei: wir bewundern in diesem Bild den Schwung und die Ausführung der winzigen Einzelheiten: die fein gebogene Nase, die roten Lippen mit den hübschen Mundfalten und der ungemein bedeutungsvolle Blick der großen Augen. Dazu der bewegte Faltenwurf der Gewänder: alles dies - wie gesagt - auf der sehr schmalen Fläche eines Anfangsbuchstabens in unserer Bibel.

Bild: N 3/1409

Dieses Detail aus der anfangs gezeigten Initiale "P" enthält im Oval des Buchstabens eine dozierende Figur, offenbar Salomo, davor ein Kind.

"Mein Kind,- gehorche der Zucht deines Vaters, und verlass nicht das Gebot deiner Mutter. Denn solches ist ein schöner Schmuck deinem Haupt und eine Kette an deinem Halse..." So hieß die hierauf bezogene Stelle in den Sprüchen Salomonis.

Bild: N 3/1407

Offensichtlich hat eine andere Hand als die des Malers diese Initiale ausgeführt; doch es ist derselbe Kodex, aus dem auch die vorigen Bilder entnommen sind.

Hier der Anfang des Buches "Judith" aus den sogen. Apokryphen. - "Incipit liber Judith" steht über der Initiale "A" und weiter heißt es: "Arphaxat itaque rex Medorum subiugaverat multas gentes imperio suo--!

"Arphaxat, König der Meder, unterwarf seiner Herrschaft viele Völker...".

Bild: N 3/1402

Dies ist auf einer anderen Seite ein "E", etwas stärker vergrößert als das "A". Der Buchstabe selbst in exakter Unzialschrift mit außerordentlich sicherer Verteilung der Verdickungen und sehr klarer Absetzung des Blau gegen das Rot. Darin und daherum ein verwirrender Wirbel von Kreisen, Rollen und Strichen jedoch schön geordnet nach Kreisparzellen, die sich an ein Geäst angliedern, das einmal von der linken Ecke des oberen Buchstabenfeldes, dann von der rechten Ecke des unteren Feldes entgegengesetzt seinen Ausgang nimmt.

Bild: N 3/1405

Ein wundervolles Unzial "F" - Es macht den Beginn des 5. Buches Mosis augenfällig:

"Hec sunt Verba que locutus est Moysee ad omne Israel ..."

"Das sind die Worte, die Mose redete zum ganzen Volk Israel jenseits des Jordans in der Wüste..."

Die Kunst der Buch- und Schriftenmalerei wurde schulmäßig gelehrt und ausgeübt. Sitze der Kunstschulen sind Klöster und Stifte. Jede dieser Stätten entwickelte ihre Eigenarten und man beobachtet im Laufe der Zeit eine wachsende Mannigfaltigkeit. Wandernde oder auswärts stu dierende Mönche bringen ihre Kunst von einer Stelle zur anderen; vor allem aber sind es die Handschriften selbst, die als Geschenk, als Leihgabe oder durch Zufall an ein entferntes Kloster gelangen und dadurch der Stilverbreitung dienen.

Bild: N 3/1404

Unzählige, ja, die meisten Seiten des Bibelkodex sind mit solchen Initialen versehen, manche Seiten - wie diese hier - sogar mit mehreren, die an Schönheit alle miteinander konkurrieren.

Besonders apart ist das "M" unten rechts mit einer blauen Abteilung; ungemein reizvoll der Gegensatz von blau-roten beschlagartigen Ornamenten und der unübersehbar feinen Ziselierung im Innern und an den Rändern. Diese Art der linearen Buchmalerei entstand in gotischer Zeit; sie verkörpert also das eigentlich Gotische im Vergleich zur Miniatur, die wir eben sahen und deren Merkmale noch viele romanische Züge aufweisen. -

Vermutlich ist die Lemgoer Bibelhandschrift von Lemgoer Kaufleuten aus Flandern nach hier gebracht und der Nikolaikirche geschenkt worden. Schule und Stil der Malerei weisen nach Holland, und zwar in die Gegend von Zutphen. Das Archiv von Deventer besitzt einen Kodex, der ganz ähnlich illuminiert ist.

Geschichtlich gesehen ist die Lemgoer Bibel somit ein weiterer Beweis für’ die hansischen Beziehungen unserer Stadt mit Flandern: etwa um 1350 - 1360 könnte die Handschrift erworben und nach Lemgo gelangt sein.

[Hier irrt Hoppe, da zwischenzeitlich nachgewiesen ist, dass die Bibelabschrift dieser Vulgata um 1270 in Bologna als Auftragsarbeit entstanden ist. Initialen und Rankenwerk eventuell Paris, um 1300. Möglicherweise gelangte der Kodex über die Dominikanerinnen im Marienkloster nach Lemgo. Der Schreiber "Franciscus de Grasulfo" nennt sich am Schluss der Schrift selbst, vgl. dazu Lother Weiß, Kostbarkeiten aus der alten Gymnasialbibliothek Lemgo, Lemgo 2009).

Bild: N 3/1403

Wir verlassen nunmehr den geschichtlichen und kunsthistorischen Raum der Frühgotik und treten ein in das Jahrhundert Gutenbergs und seiner Erfindung, der Buchdruckerkunst.

Unser Bild stellt eine Druckerpresse um 1509 dar. Es ist einem Lemgoer Druck vom Jahre 1511, - oder besser: einem französischen Druck, der sich im Stadtarchiv befindet, - entnommen.

Solche Abbildungen sind verhältnismäßig selten; sie werden nachher noch die vollständige Titelseite sehen, zu der diese hier gehört. -

Aus der Frühzeit des Buchdrucks besitzen wir in Lemgo etwa 40 Bücher, die fast alle aus dem ehemaligen Franziskanerkloster an der Mittelstraße stammen. Darunter befinden sich einige historische und naturwissenschaftliche Monumentalwerke, deren Autoren allerdings noch dem scholastischen Mittelalter zu zurechnen sind. So z. B. die Bücher des Vincentius Bellovacensis oder - wie er mit bürgerlichem Namen heißt: Vincent von Beauvais, ein französischer Mönch. Er schrieb ein "Speculum naturale", also ein naturkundliches Werk - und ein "Speculum historiale" einen sogen. Geschichtsspiegel...

 Bild: N 3/1413

Dies ist das "Speculum naturale" des Vincentius aus dem Lemgoer Franziskanerkloster, gedruckt in Jahre 1470.

Es hat Großfolio-Format und besitzt ein beträchtliches Gewicht, wodurch das Buch keineswegs handlich im Gebrauch ist. Man benutzte zum Lesen solcher Bücher eigens daür gebaute Lesepulte.

Bild N 3/1414

Schwere Messingbeschläge schützten das Buch gegen Beschädigungen, die allein durch das Eigengewicht leicht möglich waren. Dies ist ein Eckbeschlag in schönen gotischen Zierformen.

Bild: N 3/1415

Dasselbe Buch; diesmal der Mittelbuckel auf dem Einbanddeckel. Ebenfalls recht hübsch in der Form und naturgemäß noch besser erhalten als der Einband selbst...

Bild: N 3/1416

Ein altehrwürdiges Exemplar, dicker mit Leder überzogener Holzdeckel, teilweise schon recht wurmstichig. Der Rücken ziemlich lädiert. Aber noch ist die ursprüngliche Signatur der Kloster bibliothek erkennbar.

Bild: N 3/1417

Ich will nicht alle Bände zeigen; doch möchte ich einmal auf die Verzierung des Ledereinbands hinweisen. Das Leder - meist Kalbsleder - wurde vom Buchbinder naß über die Holzdeckel gezogen und noch im feuchten Zustand geritzt und gepreßt, oder mit Einzelstempeln, die vorher erhitzt wurden, im Blinddruck bemustert.

Bild: N 3/1482

vie Rückseite desselben Buches. Es besteht eine große Wahrscheinlichkeit, daß die Lemgoer Mönche [Franziskaner] die Bucheinbände selbst herstellten.

Auf einem anderen Buch habe ich als Stempelaufdruck im Leder ein Siegel entdeckt, das den Namen "Homersen" trägt. Und dieser Homersen ist ein urkundlich in Lemgo bekannter Priestername...

Bild: N 3/1483

Wie Sie wissen, nennt man solche Drucke Wiegendrucke oder auch lateinisch "Inkunabeln".

Hier sehen Sie eine Seite aus dem gedruckten Missale, das ich bereits erwähnte. Dieses und das folgende Beispiel mögen uns zeigen, was den gedruckten Satz vom handgeschriebenen  unterscheidet.

Bild: N 3/1481

Die Druckbuchstaben sind lange nicht so organisch miteinander verbunden, wie das im Schriftsatz der Fall ist. Die Typen sind nicht zu Worteinheiten zusammengewachsen, sondern stehen steif mit Zwischenräumen nebeneinander, - so wie etwa bei der Schreibmaschinenschrift.

Bild: N 3/1424

Besonderes Kennzeichen der Wiegendrucke ist die’ Auslassung der Initialen im Drucksatz. Sie werden mit der Hand nachgetragen, so wie hier das "0" und die roten Interstreichungen.

Titelseiten besitzen die Wiegendrucke nicht. Dies hier ist sie erste Seite; wie ein Titel mit der Hand darüber geschrieben: die Worte "Pro Conventu fratrum minorum in Lemgo" dtsch. für das Konvent der Minoritenbrüder zu Lemgo, - also eine Widmung.

Bild: N 3/1418

Hier deutlich erkennbar die Einzeichnung der Initiale "Q" mit einem Wappentier darin, dem Bären. Durch farbliche Zusätze mit der Fand wird dem Druck eine persönliche, handwerkliche Note verliehen.

Bild: N 3/1422

Ich greife nochmal auf ein altes handgeschriebenes Pergamentblatt zurück, um besser vergleichen zu können.

Sie sehen, die Lettern sind alle miteinander verbunden durch feine Haarstriche, teilweise sogar miteinander oder ineinander verschmolzen. z.B. bei dem Wort "defende" in der Mitte des Bildes direkt über den Noten: das "d" und das "e" zu einer Einheit verbunden.

Ebenso dahinter das Wort "periculis" mit der Buchstab gruppe - Ficu- defende nos periculis = schütze uns vor Gefahren!

Bild: N 3/1391

Ich benutze die Gelegenheit, hier noch weitere Beispiele für geschriebene Noten zu zeigen:

Beachten Sie bitte, dass die Noten jene stenogramm-ähnlichen Verschlingungen aufweisen, von denen bereits die Rede war...

Bild: N 3/1387

Und nun ein gedrucktes Blatt mit Noten: Nur die Initialen "E" (dreimal) und das "c" sind mit der Hand nachträglich hineingemalt worden. Dazu noch einige unbedeutende Strichtupfen.

Neben diesen handschriftlichen Zutaten ist als weiteres Merkmal des Wiegendrucks zu nennen: die Übernahme der seit altersher üblichen Abkürzungen, wie z.B. hier in der ersten Druckzeile oben links das "cum", abgekürzt "cu" oder darunter die Wörter "substantia nostre".

Solche Abkürzungen oder Abbreviaturen waren in der Buchschrift sehr nützlich und beliebt. Daß sie sich im Typendruck eigentlich erübrigten, sollte sich erst später herausstellen.

Bild: N 3/1397

Einstweilen aber, d.h. im ersten Jahrhundert des Buchdrucks blieb der Drucksatz noch ganz abhängig vom Schriftbild des Mittelalters.

Auf dieser Seite sind nur die Initialen "K" und "L" oben auf der Seite in dunkelblauer Farbe handge zeichnet; alles andere ist gedruckt, auch das rote.

Bild: N 3/1423

Und doch entwickelte die Buchdruckerkunst allmählich eigene Mittel, die zu neuen Schmuckformen führten.

Wie hier z.B. die holzgeschnittenen Druckerzeichen: Das Impressum des Baseler Druckers Michael Wenster aus dem Jahre 1476, ein Doppelwappen.

Bild: N 3/1420

Zum Vergleich ein Buchausschnitt mit handgemalter Initiale: Es ist eine Kapitelüberschrift. Links am Rande die Eintragung "Capitulum primum", stark abgekürzt. Die Initiale "L" mit einem Gesicht versehen.

Wenn diese Zeichnung auch relativ kunstlos ist und fast primitiv anmutet, so ist doch keineswegs damit gesagt, dass die Buchmalerei im Jahrhundert der Erfindung der Buchdruckerkunst am Ende gewesen wäre.

Bild: N 3/1419

Wie man sieht, erfüllte sie weiterhin ihre Aufgabe. In den gedruckten Text wurden die Initialen hineingesetzt, und es ist erstaunlich, wie mühelos sich die sauberen bunten Buchstaben in den Satzspiegel einfügen...

Bild: N 3/1421

Die erste Seite eines Wiegendrucks a.d.Jahre 1487. Gedruckt in der Werkstatt von Johann Koelhoff zu Köln. "Prologus super librum psalmorum" steht als Überschrift da , und ersetzt im 15./Jahrhundert die Titelseite.

Die Bücher fingen damals gleich mit dem Text an. Bemerkenswert stilklar ordnen sich die Initialen ein: links das große "F" mit den roten spielerischen Ornamenten, - rechts das kleinere "U".

Die Aufgabe des Buchmalers blieb es weiterhin, wichtige Kapitel durch große Buchstaben hervorzuheben. Und so erleben wir mit den ersten Wiegendrucken gleichzeitig noch eine spätgotische Blüte der Initialenmalerei.

Bild: N 3/1453

Ein großes gemaltes "T" kündigt hier den Beginn des Messekanons an: "Te igitur clementissime pater etc."

Es ist der Text der sogen. "Oratio super oblata", welcher in der Opfermesse unmittelbar dem Kanon vorausgeht.

Auch heute noch wird die Messe mit diesem Text gesungen. In den mittelalterlichen Messebüchern war an dieser Stelle für gewöhnlich das Bild des Gekreuzigten eingefügt. Das ist auch in dem Missale der Fall, aus dem diese Bilder entnommen sind.

Bild: N 3/1426

Christus am Kreuz, Maria zur Linken und Johannes zur Rechten,- ein Bildnis von ergreifender Schlichtheit. - Vorbild scheint Lukas Cranach zu sein.

Die Kunst des Holzschnitts darf als Vorläuferin der Buchdruckerkunst betrachtet werden; sie ersetzte zuers die handgemalte oder gezeichnete Illustration.

Bild: N 3/1427

Ich sagte schon, daß der Buchdruck die handgemalte Initiale nicht verdrängt hatte; vielmehr wurde sie ein besonderes Merkmal des Wiegendrucks.

Mit den damaligen Mitteln der Typographie war es technisch unmöglich, die Schönheit des mit der Hand ausgemalten Buchstabens zu erreichen.

Mit diesem Beispiel möchte ich eine Reihe, die letzte Reihe, - von Aufnahmen einleiten, die uns zeigen sollen, zu welchen Höhepunkten diese Kunst es in spätgotischer Zeit brachte...

Bild: N 3/1488

Und das hier eines der vielen prächtigen Beispiele spätgotischer Vollendung in der Buchillumination.

Formal ist dieses "A" ähnlich konstruiert wie das vorige; doch die Ausführung ist ungleich sorgfältiger, reicher und auch künstlerisch von höherer Vollendung. Es ist gotische Ornamentik in ihrer "späten Reife".

Das Rankwerk gelängt zu naturalistischer Blüte; die abstrakten Zierformen sind frei von jeder rationalen Bindung.

Bild: N 3/1430

Vom Stilistischen her gesehen, entspricht der Buchstabe "S" noch mehr dem gotischen Ausdruckswillen als das "A". Man spürt es, wenn man diese Initiale anschaut. Eine wundervolle Farbkomposition auf goldenem Spiegel; wobei die S - Linie fast bis an die Grenze der Auflösung ausgeschwungen erscheint.

Die Ähnlichkeit mit dem Maßwerk hochgotischer Kirchenfenster ist unverkennbar!

Diese schöne Malerei findet sich in dem "Speculum naturale" des Vincentius, einer bereits im 13.Jht. geschriebenen Naturgeschichte, die das gesamte Wissen des Mittelalters umfasste.

Bild: N 3/1432

Hier beginnt mit einem großen "B" das Kapitel über die Raubtiere "De bestiis".

Und zwar gibt Vincentius das wieder, was einst Isidorus von Sevilla im 7.Jht. darüber schrieb.

Man kann am Alter dieser Quellen ermessen, welche Bedeutung der Renaisance zukam, als sie mit diesen uralten Überlieferungen brach. Trotz ihres Alters von nahezu 500 Jahren sind die Wiegendrucke noch erstaunlich gut erhalten. Das Papier ist von einer Festigkeit und Zähigkeit, die man an heutigen Papiersorten nicht mehr gewohnt ist.

Bib: N 3/1491

Dieses "E", - gleichfalls in ein glänzendes goldenes Rechteck hineingemalt,- ist interessant wegen der farblichen Auffassung: hellgrün auf Weinrot.

Obwohl stilistisch und zeichnerisch alle Initialen eine gewisse Einheitlichkeit aufweisen, fehlt es nicht an Varietät der Farben, wie man sieht.- Es werden in den Büchern gleiche Buchstaben stets auf gleiche Weise ausgeführt und gemalt.

Bild: N 3/1495

Dies ist ein Seitenausschnitt aus einem weiteren Wiegendruck: aus dem Dekretalienbuch des Papstes Gregor IX., gedruckt bei Franziskus Niger in Venedig 1486.

Dies Buch ist ungemein reich illuminiert, und setzt sich stilistisch deutlich von den vorhergehenden Beispielen ab.

Besonders bemerkenswert, wie eng und organisch sich hier die handgemalte Partie in den Druckspiegel einfügt und dadurch das Blatt belebt.

Der Text lautet in der Überschrift: "In nomine sancte trinitatis amen; compilatio decretaliur Gregorii IX (noni)" und dann beginnt es mit der Initiale: "Gregorius episcopus, servus servorum dei etc. etc."

Zu deutsch: "Gregor, Bischof, Diener der Diener Gottes: Den geliebten Söhnen, allen Doktoren und Scholaren der Universität Bologna Gruß und apostolischen Segen!"

Bild: N 3/1433

Mit solchen Titelseiten wie dieser hier schuf der Buchdruck der Renaissance etwas vollig Neues und - das müssen wir heute sagen - für das moderne Buch durchaus Charakteristisches!

Es ist jene Seite vollständig, aus der ich die Darstellung einer Druckpresse um 1500 bereits vorhin in Vergrößerung zeigte.

Interessant und auffällig das Hervortreten der architektonischen Elemente im Ornament - und hierin verwandt mit romanischem Geist.

Wenn man die Wesenszüge zweier Stilepochen aus der Anschauung heraus recht verstehen und begreiflich machen will, so dürfen die Beispiele nicht zum Vorteil der einen oder anderen ausgewählt werden. Um dieser Objektivität willen sollte es gerade ein besonders schönes und sehr kunstvoll durchdachtes Titelblatt des 16.Jh's sein, das uns nochmal in Kontrastwirkung die eigenartige Schönheit der gotischen Buchmalerei vor Augen führen möge...

Bild: N 3/1476

Zum Vergleich also hier das erste Blatt eines Wiegendrucks des 15.dh's, wobei ich wiederhole, dass man eben in dieser Zeit "Titelseiten" in dem heute begriffenen Sinne noch nicht kennt.

Der Text des 1.Kapitels steht gleich auf der ersten Seite ungekürzt und uneingeschränkt im Vordergrund. - Aber kräftig und beherrschend ist die Initiale Q in den Drucksatz hineingebracht; - die Schleife lang heruntergezogen, so dass ein Übergang zu dem die ganze Seite umrankenden Ornament geschaffen wurde.

Es lohnt sich, Einzelheiten näher ins Auge zu fassen...

Bild: N 3/1435

Dies ist die rechts auslaufende Ranke.

Man beachte das wohl ausgewogene Verhältnis der Schwünge und feinen Windungen, mit denen sich die Nebenranken vom Hauptstab trennen, um sich ihm alsdann wieder frei schwebend zuzuneigen. Dazu die Arabesken und zarten Fasern in schwarzen Strichen: das ist nach eigenen rhythmischen Gesetzen komponiert - ohne jede Symetrie der Konstruktion.

Lassen Sie mich im Geiste einmal den Versuch machen,  die Gewölbemalerei in der Nikolaikirche zu rekonstruieren.

Bild: N 3/1439

Die erhaltenen wenigen Reste der gotischen Malerei lassen nicht viel erkennen, aber die Grundelemente sind noch sichtbar und zeige auch verwandte Züge mit der Buchillumination unserer Wiegendrucke.

Bild: N 3/1438

Auch wenn wir hier nur Fragmente vor uns haben so verfolgen wir doch den unterbrochenen Schwung der Ranken; wir erkennen immerhin, dass es sich um Zierformen handelte, und das nächste Bild soll uns gewissermaßen ergänzen, was die Jahrhunderte hier leider nicht mehr überliefert haben.

Bild: N 3/1437

Das letzte Bild soll uns noch ein besonders kunstvolles Beispiel spätgotischer Initialenmalerei darbieten.

Ein prachtvolles "P", in Farbe und Komposition von meisterhafter Eleganz. Das sehr gut erhaltene Grün - im Original noch glanzvoller als hier - mit der gotischen Blattmusterung plastisch schattiert, im Oval des Buchstaben selbst dann ein überraschendes Teppichornament - diagonal angelegt. -

Wie sich weiter unten die Ranke aus dem Schaft des "P" abwärts entwickelt, das scheint mir besonders gut - besser noch als auf der vorhin , gezeigten Seite - gelungen zu sein.

Als Gegengewicht zu der kräftig herausgehobenen Initiale entsteht im unteren Teil der Seite ein selbständiges Ornament und bildet den phantasievollen Abschluss der gesamten vom Satzspiegel des Drucks erfüllten Fläche.

Bild: N 3/1429

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